Freitag, 9. Mai 2008

Rede Kurt Beck in Warschau am 9. Mai 2008

09.05.2008 Nummer: 279/08 REDE des Vorsitzenden der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, des rheinland-pfälzischen Ministerpräsidenten Kurt Beck

zum Thema "Das soziale Europa als sozialdemokratisches Zukunftsprojekt - gemeinsame Herausforderungen und Handlungsfelder"

anlässlich der Konferenz der Friedrich-Ebert-Stiftung "Unser soziales Europa im 21. Jahrhundert"

am 9. Mai 2008 in Warschau

- Es gilt das gesprochene Wort -

Sehr geehrte Damen und Herren, lieber Wojciech, lieber Marek, lieber Martin Schulz, lieber Matthias Platzeck,

es ist mir eine große Freude und Ehre zugleich, heute am Europatag in Warschau, als einer der bedeutsamsten Metropolen des neuen und größer gewordenen Europas, an dieser Konferenz der Friedrich-Ebert-Stiftung teilnehmen zu können. Der Friedrich-Ebert-Stiftung und insbesondere ihrem Leiter Peter Hengstenberg danke ich herzlich für die geleistete Arbeit der zurückliegenden Wochen.

Jedes Jahr am 9. Mai begehen wir in allen Mitgliedstaaten der Europäischen Union den Europatag! Die Europäer feiern den Tag, an dem der französische Außenminister Robert Schuman vor heute 58 Jahren die Gründung einer europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl vorschlug, aus der das großartige Projekt der Europäischen Union mit nunmehr 27 Mitgliedstaaten hervorgegangen ist.

Rückblickend kann man ohne zu zögern und aus voller Überzeugung feststellen: Europa hat Großartiges und in der Geschichte des Kontinents Einzigartiges geleistet!

Umso wichtiger ist es, den Blick auf die Zukunft des europäischen Einigungsprozesses zu richten. Deshalb könnten Datum, Ort und Titel der Veranstaltung nicht besser gewählt sein: In der Hauptstadt Polens, im Herzen Europas, am Tag der Grundsteinlegung des europäischen Einigungswerkes über das bedeutendste Zukunftsprojekt der kommenden Jahre, den Aufbau des sozialen Europas, zu sprechen, ist in der Tat eine ideale Kombination.

I. DAS SOZIALE EUROPA ALS ANTWORT AUF DIE HERAUSFORDERUNGEN UNSERER ZEIT

Globalisierung und demographischer Wandel als Herausforderungen für die Systeme der sozialen Sicherheit

Anrede,

als Sozialdemokraten wissen wir: Die Gestaltung der Zukunft beginnt mit der Analyse der Gegenwart. Wer sagen will, was sein soll, muss zunächst sagen, was ist. Anders ist gute Politik, die reale Fortschritte für die Menschen erreichen will, nicht möglich.

Doch wie sieht sie aus, die Zeit, in der wir leben?

Ein Trend sticht in besonderer Weise hervor: Unser 21. Jahrhundert ist das erste wirklich globale Jahrhundert. Neues Wissen und technologischer Fortschritt, aber auch politische Entscheidungen haben unsere Welt stärker zusammenwachsen lassen als jemals zuvor. Die Abhängigkeit voneinander ist größer geworden, damit aber auch die Verantwortung füreinander! Globalisierung ist eine Realität unserer Zeit, die wir anzuerkennen haben. Wir können hinter sie nicht zurück. Wir sollten dies auch nicht wollen. Wir müssen sie entschlossen politisch gestalten, um ihre Chancen zu nutzen.

Eine weitere große Herausforderung, mit der sich unsere Gesellschaften in Europa konfrontiert sehen, ist der demographische Wandel. Stagnierende oder rückläufige Geburtenzahlen und eine erhöhte Lebenserwartung führen dazu, dass bei Anhalten dieses Trends zukünftig immer weniger und immer ältere Menschen in Europa leben werden.

Beides, die Globalisierung und der mit ihr einhergehende Strukturwandel von einer Industrie- zu einer Dienstleistungs- und Wissensgesellschaft sowie die demographischen Umbrüche in unseren Gesellschaften stellen unsere Systeme der sozialen Sicherung und somit der gelebten und politisch organisierten Solidarität in Europa vor neue Herausforderungen.

Kein Zweifel: Diese wirtschaftliche und soziale Dynamik erschwert es den Nationalstaaten in Europa, die Finanzierung ihrer sozialen Sicherungssysteme zu gewährleisten und öffentliche gemeinwohldienliche Dienstleistungen bereitzustellen.


Sozialdemokratische Politik für Wachstum, soziale Gerechtigkeit und ökologische Verantwortung

Der Handlungsspielraum nationaler Politik ist geschrumpft, das stimmt. Doch - und auch das stimmt - er ist weitaus größer, als es sich neoliberale Theoretiker und deren politische Vertreter wünschen und uns weismachen wollen. Hinzu kommt: Dort, wo nationale Politik an ihre Grenzen stößt, kann und muss europäische und internationale Politik einspringen und den freien Marktkräften einen sozialen und ökologischen Rahmen geben. Dieser politisch vorgegebene Rahmen ist das, was wir Sozialdemokraten unter sozialer Marktwirtschaft in Europa verstehen.

Für Verzagtheit und politische Leisetreterei besteht daher keine Veranlassung! Politik darf und braucht sich nicht klein zu machen vor den Herausforderungen unserer Zeit! Wenn sie ihre Gestaltungsspielräume nutzt und sich zugleich neue erschließt, kann sie ihren Primat gegenüber den Kräften des Marktes auch unter gewandelten Bedingungen behaupten und neu durchsetzen.

II. DAS SOZIALE EUROPA BAUEN - POLITISCHER HANDLUNGSBEDARF AUF DREI EBENEN

Anrede,

ich sehe drei Handlungsebenen, auf denen es gilt, durch eine vernünftige sozialdemokratische Politik die Verbindung von wirtschaftlichem Wachstum, sozialer Sicherheit und Gerechtigkeit sowie ökologischer Verantwortung zu erneuern. Auf allen drei Ebenen haben auch Europa und die Europäische Union ihre Rolle zu spielen. Es sind letztlich diese drei Gestaltungsebenen, auf denen es gilt, ein soziales Europa als unsere gemeinsame europäische Antwort auf die Herausforderungen unserer Zeit zu bauen.

Nationale Sozialsysteme zukunftsfest machen/vorsorgender Sozialstaat

Erstens, wir müssen Sozialpolitik und soziale Sicherung im nationalen Rahmen weiterentwickeln. Um den Sozialstaat in Deutschland zukunftsfest zu gestalten, hat die SPD in ihrem neuen Hamburger Grundsatzprogramm ein weit reichendes Konzept vorgelegt: das Konzept des vorsorgenden Sozialstaats.

Die solidarische Absicherung der großen Lebensrisiken bleibt vordringliche Aufgabe der sozialstaatlichen Sicherungssysteme. Verstärkt wollen wir aber auch das Prinzip der Vorsorge in den Vordergrund rücken. Bildung als entscheidende Voraussetzung für gesellschaftliche Teilhabe und Aufstiegschancen wird dabei zum integralen Bestandteil einer modernen Sozialpolitik.

Und es geht auch um faire Arbeitsbedingungen, eine umfassende gesundheitliche Prävention und weit reichende öffentliche Dienstleistungen, die eine Teilhabe eines Jeden am gesellschaftlichen Miteinander ermöglichen. Grundgedanke bei all dem ist, dass sich die Qualität des Sozialstaates nicht allein an der Höhe von Transferleistungen misst, sondern an der Gewährleistung tatsächlicher Lebenschancen, die allen von Anfang an und immer aufs Neue offen stehen müssen.

Es ist sinnvoll, wenn wir diese nationalen Reformanstrengungen im europäischen Kontext koordinieren und dafür offen sind, voneinander zu lernen. Die Möglichkeiten, die die Europäische Union bereits jetzt hierfür bietet, sind zu begrüßen und weiter auszubauen.

Klar ist aber auch: eine Vereinheitlichung der nationalen Sozialsysteme kann nicht das Ziel sein. Die historisch gewachsenen Unterschiede zwischen den einzelnen nationalen sozialen Sicherungssystemen in Europa sind dafür zu groß. Einen europäischen Sozialstaat wird und soll es nicht geben! Sozialpolitik bleibt auch weiterhin nationale Kernkompetenz!

Eine europäische Sozialunion als Integrationsprojekt der kommenden Dekaden

Die zweite Ebene, auf die wir als Sozialdemokraten unsere politische Energie richten müssen, ist die europäische Ebene. Im Europäischen Parlament, im Rat und in der Kommission müssen wir uns dafür einsetzen, die soziale Dimension der europäischen Integration zu stärken. Wir brauchen dringend gemeinsame europäische Rahmenbedingungen, um soziale und ökologische Standards wirksam abzusichern und zu stärken.

Nach der Verwirklichung des europäischen Binnenmarktes mit großen Wohlstandsgewinnen für die Menschen und der Einführung einer gemeinsamen Währung - hoffentlich bald auch in den neuen EU-Mitgliedstaaten - gilt es, die Arbeit für das soziale Europa als großes Zukunftsprojekt der kommenden Jahre voranzutreiben.

Parallel zum wirtschaftlichen Fortschritt müssen wir auch sozialen Fortschritt organisieren. Nur so ist sichergestellt, dass der erwirtschaftete Wohlstand nicht nur einigen wenigen, sondern vielen Menschen zugute kommt.

Auch die Menschen in Europa wollen, dass Europa mehr ist als ein Markt. Schon der große Europäer und Sozialdemokrat Jacques Delors hat festgestellt, dass "man nicht einen gemeinsamen Markt lieben kann". Er hatte Recht. Erst wenn Europa zeigt, dass es auch ein soziales Gesicht hat, dass es eben den Menschen und nicht allein den Markt in den Mittelpunkt rückt, wird es die Menschen für sich wirklich begeistern können.

Ein wichtiger Schritt, um die Menschen wieder von der Zukunftskraft des europäischen Gedankens überzeugen zu können, ist der neue Vertrag von Lissabon. Im Vertrag von Lissabon ist das klare Ziel formuliert, dass auch auf europäischer Ebene die Prinzipien der sozialen Marktwirtschaft voll zu gelten haben. Das ist ein richtiges und wichtiges Ziel, für das wir uns nachdrücklich eingesetzt haben. Bisher ist es aber in erster Linie ein Ziel, europäische Wirklichkeit ist es noch nicht! Im Übrigen: Auch dies ist ein entscheidender Grund, warum es wichtig ist, dass der Vertrag von Lissabon möglichst bald von allen EU-Mitgliedstaaten ratifiziert wird.

Europa als Instrument zur sozialen Gestaltung der Globalisierung

Eine dritte politische Handlungsebene ist zentral, um wirtschaftliche Freiheit mit sozialer Gerechtigkeit und Solidarität dauerhaft und umfassend in Balance zu halten. Auch auf internationaler Ebene brauchen wir Regelwerke, die soziale Standards festschreiben und ökologische Nachhaltigkeit vorschreiben. Im Rahmen der WTO, bei Standards für die öffentliche Auftragsvergabe sowie im Zusammenhang mit unserer Entwicklungszusammenarbeit müssen wir Schritte in diese Richtung gehen. Gerade die Kernarbeitsnormen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) dürfen nicht nur auf dem Papier, sondern müssen in der Praxis gelten.

Als Europäer können wir zu all dem nur dann einen wirklichen Beitrag leisten, wenn wir auf die Kraft unseres gemeinsamen Handelns vertrauen.

Stärker noch als bislang müssen wir Europa und die Europäische Union zu unserem gemeinsamen Instrument zur Gestaltung der Globalisierung über europäische Grenzen hinaus machen! Hierzu brauchen wir eine starke und stimmige europäische Außenpolitik. Eine starke europäische Außenpolitik zur Durchsetzung gemeinsamer europäischer Interessen liegt auch im nationalen Interesse der Mitgliedstaaten. Nur auf diesem Weg kann Europa zu einem politischen Kraftzentrum für friedliche, soziale und ökologisch nachhaltige Erneuerung in einer Welt im Wandel werden!

III. UNSER SOZIALES EUROPA - GESTALTUNGSAUFTRAG FÜR DIE EUROPÄISCHE SOZIALDEMOKRATIE

Zusammengefasst gilt für die europäische Sozialdemokratie: Wie wohl keine zweite europäische Zukunftsfrage ist die Frage nach den Gestaltungsperspektiven für das soziale Europa Profil bildend für unsere gemeinsame politische Familie. Sie ist unser Markenkern! Dies müssen wir sehr deutlich auch in der politischen Auseinandersetzung mit Konservativen und Liberalen im Vorfeld der Europawahlen im Juni nächstes Jahr hervorheben. Wenn wir dies entschlossen tun, haben wir große Chancen, politische Spielräume zur Verwirklichung des sozialen Europas zu erschließen und die Zukunft Europas entscheidend mitzugestalten.

  • Diskussionen.de
  •